Samstag, 18. Juli 2015, 14:00 Uhr, Start zum 24-Stunden-Rennen in Kelheim. Wir sind nicht nur dabei. Wir sind mittendrin. Am Start als Mix-Team für die RSG Augsburg. Aber fangen wir am Anfang an…
Es war an einem Mittwoch Abend im Frühjahr, Rapp-Cup auf der Radrennbahn, als das Gespräch von Katharina Baacke, Mama unserer U13-Hoffnung Liv-Kaja, auf das Thema Kelheim gelenkt wurde. Sie war da schon als Einzelstarterin dabei, und sie würde gerne mal in einem Damen- oder Mixteam an den Start gehen. Andrea, die Cateringchefin der Radrennbahn, war sofort Feuer und Flamme. „Da machen wir mit! Gar keine Frage!“ Ich war da etwas skeptischer, denn das bei so einem Rennen keine Nasenbohrer am Start sind, war mir von Anfang an klar. Am selben Abend wurde noch unser Sohn Manuel in die Pläne eingeweiht, denn der wurde schon vorher als möglicher Teilnehmer aussondiert. Und auch seine Begeisterung war kaum zu bremsen. Somit war auch für mich klar: mitgefangen, mitgehangen. Aus der Nummer komm ich nicht mehr raus…
Die nächsten Wochen waren wir damit beschäftigt, einen fünften Starter zu finden. Für Mix-Teams sind fünf Teilnehmer vorgeschrieben, davon müssen mindestens zwei Mädels sein, aber das Problem hat sich mit Andrea und Katharina ja schon von Anfang an erledigt. Der fünfte Mann/die fünfte Frau hat sich da etwas schwieriger gestaltet. Egal, wen wir in der RSG angesprochen haben (wir haben sicher auch nicht alle erreicht), ernsthaftes Interesse war kaum bis gar nicht vorhanden, sogar Antworten wie „Kindergartenveranstaltung“ haben wir bekommen. Demjenigen, der das gesagt hat, kann ich im Nachhinein nur sagen: fahr Du erst mal mit. Du wirst Dich umschauen. Von wegen Kindergarten…
Am 5. Juni haben wir uns mit Familie Baacke in Kelheim zur Rennstreckenbesichtigung getroffen. Als wir ankamen, waren Katharina und Swen noch nicht da, und so hat uns der Zufall (oder doch eher das Navi :)) direkt an die Rennstrecke geführt. Einmal „falsch“ abgebogen, und schon waren wir am Ortsende von Kelheim, direkt am Beginn der berüchtigten Steigung. Also blieben die Räder auf dem Dach, wir fuhren erst mal mit dem Auto hoch. Das erste Stück zieht schon ordentlich hoch, nach der ersten von zwei Spitzkehren wird es noch ein bißchen steiler. Nach der zweiten Spitzkehre geht es noch ungefähr 300 Meter so steil weiter, anschließend flacht der Berg etwas ab, geht dann in eine Senke, um in der anschließenden Links-Rechts-Kombination wieder in die Steigung über zu gehen. Nach der Rechtskurve kommt dann das große AHA!
Der Rest der Steigung steht wie der sprichwörtliche Berg vor Dir. Das ist also der berühmt-berüchtigte „Col de Stausacker“. Die Straße geht kerzengerade nach oben, einen halben Kilometer mit etwa sechs Prozent Steigung, dann zieht der Berg an auf etwa elf Prozent, einen Kilometer lang, links und rechts nur Wald, darüber nur noch der Horizont. Respekteinflößend… Ich schau zu meiner Frau auf den Beifahrersitz und sage: „Vergiß es. Ich bleib daheim!“, und das habe ich in dem Moment auch ernst gemeint. Natürlich sind wir die Strecke doch noch abgeradelt. Der Berg ist machbar. Auch mehrmals. Ein paar Tage später schicke ich die Meldung unseres Teams an den Veranstalter raus. Obwohl wir zu diesem Zeitpunkt erst zu viert waren und der fünfte Fahrer nachgemeldet werden musste. Auf jeden Fall: Kelheim, wir kommen!
Letztlich haben wir unser Team mit Peter Balleis aufgefüllt, einem Freund von Swen-Uwe Baacke und Mitglied beim TSV Gaimersheim, der sofort bereit war, mitzumachen. Da zu diesem Zeitpunkt der Teamname mit „RSG Augsburg Mixed“ bereits fixiert und gemeldet war, durfte/musste Peter unter der Flagge der RSG starten. Aber Peter hat sich super ins Team integriert, die Chemie hat gepasst, und rennfahrerisch hat er uns alle in die Tasche gesteckt!
Samstag, 18. Juli, 8:00 Uhr. Es geht los. Der RSG-Bus steht bereits in Kelheim, den haben wir schon am Mittwoch beim Rapp-Cup vollgeladen mit Pavillon, Bierbänken, Luftmatratzen, Schlafsäcken, Ersatzlaufrädern, allem, was man an einem Rennwochenende vor Ort so braucht, aber zuhause entbehren kann. Swen hat den Bus mitgenommen und am Donnerstag unseren Stellplatz fürs Fahrerlager reserviert. Der Rest muss jetzt ins Auto, und für so ein Rennwochenende kommt doch Etliches zusammen. Der Kofferraum ist bis hinten hin beladen, vier Rennräder auf dem Dach, fünf Mann im Auto, Karre voll! In Kelheim angekommen, wird dann erst mal der Platz besetzt, der Pavillon aufgebaut, und dann richten wir uns häuslich ein. Bierbänke, Kühltaschen, Liegestühle…
Samstag, 14:00 Uhr. Startschuss. Knapp 400 Radler begeben sich am Ortsausgang von Kelheim auf die Strecke. Etwa eine Stunde vor dem Start geht ein kurzer Schauer runter, die Straßen sind stellenweise noch feucht, aber da es die ganze Zeit bedeckt ist, sind die Temperaturen durchwegs erträglich. Lediglich am späten Nachmittag kommt nochmal für zehn Minuten eine ordentliche Dusche runter, für den Rest des Rennens bleibt es aber von oben trocken. Der Wettergott hat es nicht allzu schlecht mit uns gemeint.
Andrea: „Aus einer am Anfang nicht ganz ernst gemeinten Idee wurde es mit dem endgültigen Entschluss, teil zu nehmen, ernst für mich. Gut zehn Wochen Vorbereitungszeit, null Rennerfahrung, und dann gleich ein 24h-Rennen. Wie blöd kann man eigentlich sein??? Am 18. Juli ging ich dann als zweite Starterin ins Rennen. Um mich herum, so war mein Eindruck, ausschließlich Profis, und ich mittendrin. Jetzt bloß nicht den Staffelstab verlieren, gleich ins Pedal kommen und Dich ja nicht blamieren, waren meine Gedanken beim Start. Aber alles ging gut. Und dann gleich die nächste Hürde: der Berg! Ich hatte großen Respekt davor, da ich überhaupt kein Bergfahrer bin. Also konzentrierte ich mich darauf, ja keinen Tritt auszulassen. Aber das Publikum hat jeden Fahrer angefeuert, sodass man regelrecht nach oben gepusht wurde. Oben angekommen wurden die Fahrer mit einer super Partystimmung begrüßt, und die Belohnung für die Anstrengung folgte sofort: die Abfahrt! Fast überall auf der Rennstrecke wurde man Tag und Nacht angefeuert, die Kelheimer waren ein tolles Publikum. Alle hatten ihren Spaß daran, uns zu pushen. Mein Entschluss, nächstes Jahr wieder am Start zu stehen, stand schon während des Rennens fest, denn abgesehen davon, dass es einen Riesen Spaß gemacht hat, bin ich stolz auf mich, fünf Mal diesen Berg bezwungen zu haben. Aber eines muss abschließend noch gesagt werden: was die Versorgung der Rennfahrer mit Leberkäs betrifft, kann der veranstaltende RSC Kelheim vom Catering der Radrennbahn Augsburg noch einiges lernen ;)“
Wir haben vorab unsere Taktik für die ersten Stunden abgesprochen und uns darauf geeinigt, dass wir in der Reihenfolge unserer Startnummern fahren werden, und dass nach jeder Runde ein Fahrerwechsel vollzogen wird. Zwei Runden am Stück sind zu kräftezehrend, darüber sind wir uns einig. Schließlich geht es zwei Mal rund um die Uhr… Oberste Zielsetzung war ganz eindeutig: Durchkommen!!! Wir fahren um jeden Preis ins Ziel, das war von Anfang an klar. Aufgeben? Is nich! Letzter Platz? Egal. Vorletzter? Wäre schön. Muss aber nicht…
Es dauert gerade einmal 23 Minuten, bis die ersten Teilnehmer aus der verkürzten Startrunde in der Wechselzone in der Innenstadt von Kelheim einfliegen. 23 Minuten für 16 ½ Kilometer! Inklusive diesem Berg. Kindergarten? Nee, nicht wirklich… Manuel und ich stehen in der Wechselzone und schauen uns an, wie das im Detail abläuft. Nach langen Minuten des Wartens kommt Katharina rein und übergibt den Staffelstab an Andrea. Unglaublich, wie sich in dieser Hektik ein paar Minuten in eine Ewigkeit verwandeln können.
Harald: „15.50 Uhr. Ich gehe auf meine erste Runde. Der Wechsel mit Manuel hat ganz gut geklappt, auch wenn ich ziemlich lange ganz vorne in der Wechselzone warten musste. Hatte mich einfach ein bißchen zu früh angestellt. Vollgas raus aus der Altstadt, das Kopfsteinpflaster hinter mir lassen. 300 Meter weiter beginnt der Anstieg. Ich hasse Berge! Zumindest mit dem Rad. Einen Gang nach dem anderen runter schalten. Nach der ersten Spitzkehre bin ich auf dem größten Ritzel, rien ne va plus. Die Beine sind noch nicht warm, es zwickt in den Oberschenkeln. Ein gutes Stück nach der zweiten Spitzkehre, etwa bei Streckenkilometer 2, flacht die Strecke ab. Die Augen sagen: schalt hoch! Das tue ich. Aber die Beine wehren sich. Es geht immer noch mit etwa 4% aufwärts, auch wenn der Kopf etwas anderes sagt. Wieder zwei Gänge runter. Kurz darauf folgt die Senke, etwa bei Kilometer 3, Kette rechts und Vollgas. Bei Kilometer 3,5 geht’s schon wieder leicht bergauf, einmal, zweimal runterschalten, etwa bei Kilometer 4 dann vom großen aufs kleine Blatt , bei Kilometer 4,5 zieht der Berg wieder auf 10-11% an, deshalb wieder runter bis aufs größte Ritzel. Ich finde meinen Rhythmus und fahre mein Tempo hoch, obwohl ich ständig von anderen überholt werde. Puls und Atmung sind am Limit. Überziehen ist nicht drin. Es geht noch 22 Stunden… Man sieht oben die Kuppe und denkt, man hat es gleich geschafft. Pustekuchen! An der vermeintlichen Kuppe flacht der Berg nur ab, es geht immer noch etwa 300 Meter weit mit 4% hoch. Trotzdem hochschalten, Tempo aufnehmen, am höchsten Punkt der Strecke steht ein Werbebanner, da sind die Fans an der Strecke und feuern jeden, wirklich jeden an. Geschafft!
Es geht wieder bergab, zunächst sachte, ab Kilometer 6,7 wird es steiler. Kette rechts, 53/11, am Rechtsknick bei Kilometer 7,4 komme ich mit etwa 55km/h an. Der Rechtsknick ist in der Fahrbahnmitte mit Absperrzäunen gesichert (die Rennstrecke ist während des gesamten Rennens für Autos im Gegenverkehr freigegeben!), die Kurve geht nicht voll. Kurz die Bremse angetippt, haarscharf am Kurvenausgang an den Zäunen vorbei. Die ersten Meter nach der Kurve sind flach, ich komme kaum wieder auf Tempo, die Übersetzung ist zu lang. Ab der nächsten Runde werde ich vor dem Anbremsen zwei Gänge runter schalten. Aber dann geht es gleich wieder bergab, drei Kilometer lang Vollgas. Unten an der Brücke über den Main-Donau-Kanal zeigt mein Tacho 65km/h an. Rechts runter auf die Bundesstraße, zurück Richtung Kelheim. Ich finde gleich einen Partner, wir fahren zusammen, wechseln uns ständig in der Führung ab. Die sechs Kilometer sind leicht wellig, die Kette bleibt auf dem großen Blatt, lediglich hinten wird entsprechend der Geländetopographie mit drei Gängen gespielt. Am Ortseingang von Kelheim steht ein Geschwindigkeitsmesser, der zeigt uns 38km/h an. Ich nehme mir vor, dass ich dieses Tempo in jeder Runde halten will, man muss sich ja schließlich Ziele setzen. Abgesehen von einer Ausnahme werde ich dieses Ziel auch erreichen. Aber dazu später mehr…
Rechts weg Richtung Innenstadt, die Brücke über den Kanal, das sind fünf richtig knackige Höhenmeter, Kette runter aufs kleine Blatt, noch zwei Kurven, dann kommt die Linkskurve durchs Stadttor in die Altstadt. Die Kurve ist nicht ungefährlich, mit Belagwechsel von Teer auf Kopfsteinpflaster. Trotzdem glaube ich, dass die Kurve voll geht, was sich im weiteren Rennverlauf auch als richtig herausstellen wird. Da wir erst vor der Brücke den letzten Führungswechsel gemacht haben, lasse ich dem Kollegen den Vortritt. Ein Fehler! Der bremst nämlich vor der Kurve scharf ab und kriecht dann mit 20km/h durch die Innenstadt Richtung Wechselzone. Die Absperrgitter stehen in diesem Bereich so eng, dass ein gefahrloses Überholen praktisch unmöglich ist. Durch diese Aktion verliere ich mindestens 15 Sekunden. Unglaublich. Das passiert mir kein zweites Mal. Beim Fahrerwechsel verliere ich dann nochmal wertvolle Sekunden. Ich gehe davon aus, dass Peter im orangenen Trikot vom TSV Gaimersheim am Start steht. Weit gefehlt. Peter ist komplett in schwarz und geht damit in der Menge der Fahrer in der Wechselzone total unter. Ich entdecke ihn erst, als seine Frau wild gestikulierend auf ihn zeigt. Beim nächsten Wechsel steige ich auf verbale Kommunikation um: „Peeeter…“
Als ich die Wechselzone verlasse, werfe ich zum ersten Mal einen Blick auf die Zeitmonitore. Mit meiner ersten Runde bin ich zufrieden, aber nicht mit dem Ergebnis. 29. Platz. Von 29 teilnehmenden Mix-Teams. Zwanzig Minuten Rückstand auf Platz 28… :( In der Zwischenzeit heißt es regenerieren und die Speicher wieder auffüllen. Auf der Speisekarte stehen Bananen, Nudelsalat, Tomate-Mozzarella, diverse Riegel und elektrolytische Getränke. Wichtig: regelmäßig essen, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Es hilft nichts, wenn auf der nächsten Runde den Berg hoch der Ranzen spannt!
Das Rennen läuft für uns soweit planmäßig, keine kurzfristigen Änderungen, keine technischen Defekte. Alles passt. Außer, dass wir immer noch auf dem 29. Platz rumdümpeln…
Von 21:00 bis 5:00 Uhr herrscht auf der Rennstrecke Licht- und Warnwestenpflicht. Beleuchtung gibt es ausschließlich im Stadtgebiet, den Berg rauf und runter durch den Wald ist es zappenduster. Die Räder wurden schon im Vorfeld entsprechend präpariert, die Halterungen für Scheinwerfer und Rücklicht sind vom Start weg montiert, damit wir in der Nacht nur noch die Lampen anstecken müssen. Warnwesten hat man heutzutage selbstverständlich in ausreichender Zahl im Auto liegen. Andrea ist sozusagen das Versuchskaninchen, sie muss als erste im Dunkeln raus.
Harald: „21:55 Uhr, meine dritte Runde, die erste im Dunkeln. Als ich mich zum Start begebe, mache ich mir Sorgen bezüglich meiner Warnweste. Ich habe das Ding aus dem Auto geholt und angezogen. Vorher ausprobiert hat es keiner von uns. Das Ding hat zwei simple Klettverschlüsse, und ich befürchte, dass die in der langen Abfahrt nicht halten. Eine Warnweste, die bei 60+ aufgeht. Der Gedanke lässt mich lange nicht in Ruhe. Nächstes Mal besorge ich welche mit Reißverschluß…
Im Bierzelt ist High Life, die Musik läuft, die Zuschauer feuern die Fahrer mit frenetischem Beifall an. Das Ortsschild von Kelheim entlässt mich in die Nacht, direkt den Berg hoch. Das Bild, das ich vor mir habe, ist gigantisch. Vor mir ist eine nicht enden wollende Kette aus roten Lichtern, Dutzende hintereinander, vor allem die lange Steigung hoch ist der Anblick kaum zu beschreiben. Was mich etwas enttäuscht, ist mein eigener Scheinwerfer, der mir eigentlich auf dem täglichen Weg in die Arbeit gute Dienste leistet. Aber auf das, was sich manche hier auf den Lenker geschraubt haben, wäre sogar der eine oder andere Autofahrer neidisch. Mein Licht ist im Vergleich dazu die reinste Funzel, so als ob man Bilux mit Xenon vergleicht… Die Runde verläuft problemlos, alle Schalt- und Bremspunkte (von letzterem gibt es ja nur zwei) sind inzwischen sicher im Kopf abgespeichert, und auch meine Sorgen wegen der Warnweste erweisen sich als überflüssig. Auf der Gegengeraden habe ich eine Gruppe, deren Tempo genau zu meinem passt. Die Führung wird regelmäßig gewechselt, der Wind steht still, und so erreichen wir den Ortseingang von Kelheim mit 43km/h. An der Brücke nochmal aus dem Sattel, auf den letzten zwei Kurven überhole ich die beiden Fahrer vor mir, damit ich als erster in die Innenstadt einbiegen kann. Dieses Mal habe ich keine Zeit verloren. Dafür etwas anderes. Nachdem ich Peter auf die Strecke geschickt habe, merke ich, dass mein Rücklicht weg ist. Das muss auf dem Kopfsteinpflaster auf den letzten Metern passiert sein. Ich überlege kurz, mich auf die Suche zu machen. Aber die Innenstadt von Kelheim ist immer noch voll von Menschen. Wegen Sinnlosigkeit lasse ich es bleiben. Jetzt heißt es umbauen. Zum Glück habe ich noch ein Rücklicht als Ersatz dabei. Und wenn das erledigt ist, werde ich mich schlafen legen…“
Für die Nacht haben wir unsere Taktik geändert. Damit alle ein bisschen mehr Zeit zum Ausruhen haben und es sich lohnt, sich schlafen zu legen, haben wir abgesprochen, ab dem nächsten Durchlauf entgegen der ursprünglichen Planung Doppelstints zu fahren und erst am Morgen wieder auf Einzelrunden zurück zu wechseln. Katharina ist somit um 23:00 Uhr die erste, die zwei Runden am Stück fahren darf. Lediglich Andrea haben wir von dieser Regelung ausgenommen, ihr ist die Anstrengung zwischenzeitlich deutlich anzumerken, und ihre Rundenzeiten gehen dementsprechend in die Höhe. Da machen zwei Runden am Stück keinen Sinn.
Harald: „Es ist 1:48 Uhr, als ich von selber aufwache. Die innere Uhr funktioniert, nach meiner Berechnung bin ich ungefähr um halb drei wieder dran. Gut geschlafen habe ich nicht wirklich, im Zelt ist es unglaublich warm, und natürlich ist auch im Fahrerlager nie wirklich Ruhe. Dementsprechend schlecht erholt quäle ich mich aus dem Schlafsack… Schnell noch eine Banane, eine Flasche Wasser, dann umziehen. Im Gegensatz zum Zelt ist es draußen relativ kühl, deswegen entscheide ich mich fürs Langarmtrikot. Eine durchaus richtige Entscheidung. Um 2:35 Uhr übernehme ich von Manuel den Staffelstab und gehe auf die Strecke. Im Ort herrscht um diese Zeit gespenstische Stille. Das Bierzelt ist menschenleer, keine Musik, sogar der Streckensprecher hat sich zur verdienten Nachtruhe begeben. Man hört nur noch das Gemurmel der Fahrer untereinander. Und natürlich die Rufe derer, die von der Strecke zurück kommen und ihre Ablöse in der Wechselzone suchen… Zwei Runden am Stück. Hoffentlich breche ich auf der zweiten nicht ein, sind meine Gedanken. Dieses Mal bin ich den Berg hoch ziemlich einsam. In der Senke nach der ersten Steigung dann ein Problem: beim Wechsel aufs große Blatt verhakt sich die Kette. Und das ausgerechnet hier und jetzt. Es ist stockdunkel. Kein Licht außer meinem eigenen Scheinwerfer… Meine erste Befürchtung, dass die Kette nach außen vom Blatt abgerutscht ist, bestätigt sich nicht, da die Kurbel klemmt. Wahrscheinlich hängt die Kette irgendwo zwischen den Kettenblättern fest. Vorsichtig trete ich vorwärts und rückwärts und betätige gleichzeitig den linken Schalthebel in beide Richtungen. Plötzlich macht es ‚klack‘ und die Kette ist wieder drauf. Glück gehabt. Allerdings hat sich der Umwerfer verstellt, von diesem Moment an wird die Kette in den kleinen Gängen immer am Umwerfer schleifen, was natürlich in der Steigung unheimlich nervt. Aber diese zwei Runden werde ich damit leben müssen…
Nach der ersten Runde lasse ich die Wechselzone links liegen, direkt aus der Stadt wieder raus. Sch… Berg. Zum zweiten Mal hintereinander. Die fehlende Regenerationsphase macht sich bemerkbar. Das letzte Stück schmerzt höllisch in den Oberschenkeln. Ich hasse Berge! Sagte ich das schon mal? In der Abfahrt bin ich dann endgültig allein, weder vor noch hinter mir ist ein einziges Licht auszumachen. Als ich nach der Abfahrt auf die Gegengerade einbiege, sehe ich vor mir einen kleinen roten Lichtpunkt. Anhand der Reflektoren an den Leitpfosten kann ich die Distanz auf ungefähr zweihundert Meter einschätzen. Es rentiert sich nicht, bei diesem Abstand wegen der Aussicht auf ein bisschen Windschatten die Energie zu investieren, denke ich mir, und behalte mein Tempo bei. Aber schnell verringert sich der Abstand, 150 Meter, dann 100, 75 , 50, es lässt sich an den Leitpfosten sehr gut abzählen (dafür reicht meine Funzel), und dann bin ich auch schon dran. Beim Überholen erkenne ich im Lichtkegel, dass es sich um eine junge Dame handelt. Unterwegs mit Omas Tourenrad, Stahlrahmen, Dreigang-Nabenschaltung, Schutzbleche (nein, kein Plastik, Bleche!), Gepäckträger. Einziges Zugeständnis an die aktuelle Fahrradtechnik: die vorhandene Dynamobeleuchtung bleibt außer Betrieb, zusätzlich sind Batterieleuchten montiert (ein komplettes Damenteam ist so ausgestattet am Start!). Davor kann ich nur den Hut ziehen, und augenblicklich entscheide ich mich, das Fräulein nicht einfach verhungern zu lassen. Ich nehme Druck vom Pedal, werde langsamer, sie bemerkt es, gibt augenblicklich Gas und hängt sich an mein Hinterrad. Nach ein paar Metern schreie ich nach hinten: ‚Passt das Tempo?‘. Kurze und knappe Antwort: ‚Ja, passt!‘. So schnell kann man sich einig sein… Ich ziehe sie bis ins Ziel.
Der Geschwindigkeitsmesser am Ortseingang von Kelheim zeigt diesmal nur 34km/h. Mein einziger Ausrutscher. Egal… Nachdem ich die Runde beendet habe, lege ich mich hin. Diesmal in den Bus. Und diesmal kann ich schlafen. Zumindest für zwei Stunden…“
Irgendwann in der Nacht, als Manuel, ich und Peter in dieser Reihenfolge auf unseren Doppelstints unterwegs waren, haben wir das schon nicht mehr Erwartete geschafft. Wir sind auf den vorletzten Platz vorgerückt. Wann genau es passiert ist, können wir nicht mehr genau rekonstruieren, aber das ist ja letztlich auch egal.
Während ich in der Früh um halb sieben auf der Strecke bin, gibt es im Team eine erneute Taktikbesprechung. Der 28. Platz soll um jeden Preis gehalten werden. Andrea ist in der Zwischenzeit ziemlich am Ende ihrer Kräfte angelangt, der Berg zeigt seine Wirkung, ihre letzte Rundenzeit ist nicht mehr weit von der 50-Minuten-Grenze entfernt. Das Vorhaben „vorletzter Platz“ gerät somit ernsthaft in Gefahr. Deshalb fällt einstimmig die Entscheidung, sie aus dem Rennen zu nehmen, worüber sie selbst sicher in dem Moment nicht böse ist. Mir wird die Entscheidung nach meiner Rückkehr aus meiner sechsten Runde um kurz nach sieben Uhr mitgeteilt, und angesichts der körperlichen Verfassung meiner Frau trage ich die Entscheidung mit. Somit sind wir also nur noch zu viert. Und jeder von uns hat ein bisschen mehr zu tun…
Ab sofort also nur noch vier Fahrer, somit verkürzen sich natürlich auch die Ruhepausen. Aber unsere Taktik etabliert sich, der Vorsprung auf den letzten Platz wird langsam, aber kontinuierlich größer. Jeder von uns gibt jetzt nochmal alles, was er kann. Vormittags um kurz vor elf geht Katharina raus, und zu dieser Zeit ist unser Vorsprung auf die Konkurrenz auf über zwanzig Minuten angewachsen. Wenn wir durchfahren und nicht der Defektteufel zuschlägt, kann eigentlich nichts mehr passieren. Anhand der gefahrenen Rundenzeiten können wir uns aber ausrechnen, dass wir etwa kurz nach 13.00 Uhr mit unseren noch anstehenden Wechseln durch sind. Somit ist klar, dass einer von uns nochmal raus muss, damit wir nicht auf der Zielgeraden noch abgefangen werden. Katharina ist offensichtlich stehend k.o. und kommt somit nicht in Frage. Ich lehne dankend ab, ich habe noch eine Runde vor mir, und das reicht. Somit fällt die Entscheidung zwischen Peter und Manuel. Im Falle Peter würde das heißen: zum Schluss noch einen Doppelstint. Das würde er zwar machen, aber auch bei ihm hält sich die Lust merklich in Grenzen. Bei Manuel dagegen benötigt es nicht viel Überredungskunst. Er ist auch mit Aussicht auf eine extra Runde mit einer Riesenbegeisterung dabei. Somit wird er der Rundenkönig im Team und sichert uns den vorletzten Platz. Zumindest glauben wir das… Als Manuel aus seiner letzten Runde zurück kommt, haben wir bereits mit dem Abbau des Fahrerlagers angefangen. Alle sind körperlich fertig und wollen nur noch eins: nach Hause…
Zum Abschluss ein paar Zahlen und Fakten zum Rennergebnis:
• Insgesamt haben 1028 Teilnehmer das Rennen innerhalb der Wertung beendet
• Das Siegerteam bei den Herren hat bei einer Gesamtzeit von 23h 50min 19sec eine Gesamtdistanz von 56 Runden zurückgelegt, die Zweitplatzierten hatten bei gleicher Rundenzahl im Ziel einen Rückstand von 21 Sekunden, die Plätze drei bis fünf sind mit jeweils ebenfalls 56 Runden und jeweils einer Sekunde Abstand auf Platz zwei ins Ziel gekommen; das Team unseres Freundes Swen-Uwe hat am Sonntag aufgrund eines Wechselfehlers den Anschluss zur Spitze verloren und landete im Endklassement auf Platz sechs
• Der Sieger in der Kategorie Einzelstarter Herren hat in einer Gesamtzeit von 23h 11min 49sec insgesamt 46 Runden zurückgelegt und somit acht Runden mehr zurückgelegt als unser gesamtes Team
• Der Sieger in unserer Kategorie Mix-Teams schaffte in 23h 37min 44sec in Summe 51 Runden und hat uns als direkter Gegner somit 13x überrundet. Der Vorsprung auf das zweitplatzierte Team betrug nach knapp 24 Stunden weniger als sieben Minuten
Unsere Zeit betrug in der Endabrechnung 23h 43min 40sec für 38 Runden. Auf den ersten Blick mag das ernüchternd aussehen, zumindest, wenn man sich die Rundenzahl der Sieger anschaut, aber wenn man vor Ort sieht, was hier für Radsportfreaks am Start sind, dann relativiert sich einiges. Dass wir ausgewiesene Hobbyfahrer hier nicht mehr reißen können, erklärt sich von selber, wenn man so einige Details betrachtet.
Die große Überraschung folgt dann noch am Sonntag Abend, als ich im Internet die offiziellen Ergebnisse nachlese. Dass wir nicht Letzte sind, war bereits klar, und das wohl nicht nur uns, sondern auch dem Team, das hinter uns lag. Das hat wohl keine Chance mehr gesehen, uns nochmal zu überholen und das Rennen nach etwas über 23 Stunden und 36 gefahrenen Runden beendet. Was mich jedoch noch mehr verwunderte, war, dass das Team, das vor uns lag, das Rennen ebenfalls nach knapp 23 Stunden und 37 zurückgelegten Runden abgebrochen hat. Ob dafür ein Defekt oder ein Sturz verantwortlich war, ist uns nicht bekannt, aber letztlich haben wir damit in der letzten Rennstunde noch den 27. Platz erreicht.
Harald Fischer im Namen von Katharina Baacke, Andrea Fischer, Peter Balleis und Manuel Fischer
Unser besonderer Dank an: Peter Balleis für seinen beherzten Einsatz im Rennen! Von Deinen Rundenzeiten werde ich auch nächstes Jahr nur träumen können… Albert Hofstetter für die Zurverfügungstellung des Vereinsbusses Richard Weiß für die Leihgabe des Pavillons des RSC Mering, das Ding ist Gold wert!